Kritik der Kritik und die Suche nach neuen Wahrheiten – fioLOOKBOOK Redakteur und rchitekturkritiker mag. Arch. Peter Reischer macht sich Gedanken zu Architektur und Gesellschaft.

In regelmäßigen Abständen liest man in den diversen Tages- und Wochenzeitungen (meistens nur in der Wochenendausgabe) Artikel, die sich in einem gewissen Sinn mit Architektur befassen. Oder es zumindest vorgeben. Der jeweilige Schreiber beginnt meist mit einem kleinen Zitat, einer Anekdote, manchmal auch mit einem Witz oder Bonmot – ganz wie es das Lehrbuch des Schreibens vorsieht; dennoch empfinde ich viele Beiträge als flach und aussagelos.
Was haben langatmige Schreibereien über irgendwelche historische oder halbhistorische Bauwerke samt deren geschichtlicher Erklärung für einen Sinn? Welches ist die Motivation, ein beliebiges in Österreich, Deutschland oder sonst wo stehendes architektonisches Objekt zum Ziel eines Artikels zu machen und es zu veröffentlichen?
Architekturkritik vs. Architekturromantik
Zuerst wird einmal einen Großteil der Zeichenanzahl verwendet, um aus angelesenen Geschichts- und Lehrbüchern zu zitieren und die wechselnden Besitzer eines Bauwerkes vom Erstbesitzer bis in die Jetztzeit aufzuzählen. Irgendwie sind diese ganzen Architekturberichte weltfremd mit ihrer Leidenschaft (oder der des Schreibers) für Zitate und Originaltöne aus der Historie Wiederholungen von bereits 1913 in der Zeitschrift „Die Kunst“ erwähnten Kritiken. Sollte man dieses Schreiben der „Architekturkritik“ heute ernst nehmen? Oder als Architekturroman(tik) bezeichnen?
Die Reise erfolgte auf Einladung von…
Wenigsten einer der in Österreich beheimateten Architekturpoeten hat sich einmal öffentlich in einer Diskussion von der Zuschreibung seiner Person als Architekturkritiker distanziert. Er beanspruchte für sich den Begriff „Architekturjournalist“. Eine mutige Aussage, die Respekt verdient. Denn damit nimmt er sich selbst aus dem Rennen um Unabhängigkeit, Standpunkt und Glaubwürdigkeit. Ob damit der Beliebigkeit, der Distanzlosigkeit, Informationsleere und der Zeilenschinderei bei seinen Artikeln Tür und Tor geöffnet werden, müssen seine Leser selbst entscheiden. Damit sind aber auch die nach der sogenannten Compliance-Regel mit „Die Reise fand auf Einladung von … statt“ gekennzeichneten Berichte von vornherein jeglicher Objektivität enthoben, denn der Hund beißt nie die Hand, die ihn füttert.

Auseinandersetzung mit dem Objekt fehlt oft
Gegen Ende des Artikels dann meist eine „sachliche“ Beschreibung des Bauwerkes, Raumaufteilung, Materialien und eine – ob der persönlichen Unkenntnis des beschriebenen Objektes, unüberprüfbare – Setzung in der Architekturszene, vielleicht sogar mit Bezug zur Kunstgeschichte, einfach frustrierend. Denn ob ein „Karree im Osten, wo eine Mauer den Hof begrenzt, nicht bebaut“ ist und „vielmehr die neuen Anbauten in einem L-förmigen Winkel außerhalb des Gutshofs in den Hang integriert wurden“, geht am Sinn der Architektur(kritik) in der heutigen Zeit vorbei. Man muss ja nun nicht gerade Valerio Olgiati zitieren können und eine Diskussion über kontextuelle oder a-kontextuelle, aus einer Idee stammende oder in Olgiati‘s Sinn „einfach seiende“ Architektur entfachen. Es würde ja vielleicht genügen, sich mit dem Objekt im Sinne der heutigen Anforderungen auseinanderzusetzen (womit sicher nicht der Denkmalschutz gemeint ist).
In die Probleme der Zeit einsteigen!
Aber besser noch: gar nicht darüber zu schreiben und endlich in die Diskussion über die Probleme der Zeit einzusteigen. Und so gesehen kommt die aktuelle Coronazeit einem Offenbarungseid gleich. Sie zeigt uns unter anderem, wie notwendig, respektive unnotwendig, manche Dinge sind. Wie sehr wir – wenn wir müssen – auf den gewohnten Luxus und die Standards unserer Zivilisation verzichten können. Und die Armen unserer Gesellschaft tragen die Hauptlast dieser Krise und welche Architektur kümmert sich um sie? Wird ein neuer Rekord beim Skyscraper-Bauen daran etwas ändern?
Welche Architektur kümmert sich um die Armen?
Es wäre viel wichtiger in den Medien Fragen wie „Was tut die Architektur mit den Flüchtlingen?“, „Hat die heutige Architektur noch irgendeine soziale Berechtigung oder Auftrag?“, „Ist Schreiben über Architektur noch zeitgemäß?“, „Müssen wir überhaupt noch bauen?“, „Architektur und die Auswirkung auf die Klimakrise“ zu behandeln. Denn die Lage der Welt ist ernst genug. Hier muss ein Wandel kommen.
Schon allein das Wahrnehmen der – durch weniger Autolärm – sich verändernden Geräuschkulisse in den Ballungsgebieten, die Rückkehr von Tieren, etc. in die Städte aus denen wir sie längst vertrieben geglaubt haben, wirft Fragen auf, die doch eigentlich viel interessanter sind, als die im Monatsrhythmus eröffneten Glaspaläste. Die Stille, bisher ein Privileg der Reichen mit ihren Landhäusern, kehrt vielleicht in die Städte zurück, für alle? Wie widerstandsfähig ist denn die Natur gegen unsere Architektur?
Schluss mit Pfründen und Positionen
Jegliche Diskussionsrunden über Zukunft, Stadtplanung, Klimawandel und Nachhaltigkeit sind sinnlose Zeitverschwendung, solange nicht Gesetze das Besprochene, das Überlebensnotwendige in den Bereich des Machbaren rücken. Ansonsten bleibt es Gerede, Willensbekundung zwar, aber aussichtslos. Da ist die Politik gefordert, endlich tätig zu werden. Wie wäre es mit einem absoluten Bauverbot in den wenigen, verbliebenen, grünen Innenhöfen der Gründerzeitblocks in Wien? Statt die Wiener Westein-/ausfahrt auf Kosten des Grüngürtels entlang des Wienflusses in eine 5-spurige Autobahn zu verwandeln. Für solche Themen wünsche ich mir mehr Bereitschaft der Gesetzgebung, beziehungsweise eine öffentliche Gesprächsbasis. Ohne ständig Pfründe und Positionen verteidigen zu müssen und nach öffentlicher Anerkennung zu heischen.
Jetzt nach „neuen“ Wahrheiten suchen!
Architekten, Schriftsteller und Theoretiker wie Yona Friedmann, Hugo Kükelhaus, Paul Feyerabend, E. F. Schumacher, Ivan Illich, Paolo Freire und viele andere haben bereits in den 70er Jahren ihre Thesen und Ideen für einen Wandel, für das Umdenken in Architektur und Gesellschaft formuliert. Allerdings meinten sie damals auch, dass ein Wandel, dass revolutionäre Ideen oft ein bis zwei Generationen Zeit brauchen, bis sie in das Bewusstsein der Menschen eindringen und die Gesellschaft verändern können. Fast 50 Jahre sind seither vergangen – Zeit genug um sich neu mit diesen Vorschlägen zu befassen und mit einer Umsetzung zu beginnen. Architektur ist immer ein Spiegel der Gesellschaft und Kritik zu üben ist anstrengend, ist ein Wagnis. Aber ein Spiel ist das Leben nicht, also lasst uns beginnen, nach „neuen“ Wahrheiten zu suchen!
Sie erreichen mag. arch. Peter Reischer unter www.architektur-text.at